Erfahrungen im sechsten Kontinent
Wolfgang Becker
Aachen, im März 2009
Zur Arbeit des flämischen Künstlers Ronny Delrue
Prolog: Besuch in Gent
Er hat sich häuslich in Gent eingerichtet, ist gerade fünfzig Jahre alt geworden, und seine Lebensgefährtin arbeitet als Psychiater. Als wir uns trafen, suchte er vergebens den Schlüssel zu seinem Atelier; wir gingen stattdessen in das Museum des Dr.Ghislain, das sich in einem weitläufigen Sanatorium für Geisteskrankheiten mit Ausstellungen zur patophilen Ästhetik einen Namen gemacht hat. Fortan ist Ronny Delrue in meiner Fantasie von einer Aura umgeben, die ihn als Grenzgänger markiert. Zufrieden beobachtete ich, dass mehrere Genter Bankomaten seine Kreditkarte ablehnten. Am nächsten Tag unterhielten wir uns lange in seinem Studio an der Begijnhoflaan. Delrue ist freundlich und zutraulich. Er kommuniziert gern.
In den vergangenen zwölf Jahren ist eine ungewöhnliche Zahl von Büchern und Katalogen über die Arbeit des Künstlers in Flandern erschienen. Etliche dieser Bücher sind liebevoll und aufwendig gestaltet, und Delrue hat Freunde und Bekannte, Kunstkritiker, Geisteswissenschaftler, Psychiater eingeladen, Essays zu seinen Werken zu schreiben. Die meisten von ihnen liegen niederländisch, französisch und englisch vor. Für den Künstler sind Bücher ein wichtiges Medium, um seine Arbeit bekannt zu machen. Im ihnen sind Botschaften verschlossen, die sich dem Leser nur dann mitteilen, wenn er sie öffnet. Die Öffnung des Blicks ist hier handgreiflich. Die Texte in den Büchern versuchen, die Botschaften der Bilder zu enträtseln, aber in den Bildern verbirgt sich der Künstler und hütet seine Geheimnisse. Er genießt es, dass Menschen damit beschäftigt sind, sie zu entschlüsseln. So wird er auch diesen Text neugierig lesen, der das Werk der letzten zehn Jahre kommentiert und zum ersten Mal eine Perspektive aus der Distanz, aus einem anderen Land, einer anderen Sprache und anderen Gewohnheiten, Kunst zu betrachten, bietet.
„De Wandelaar“
2002 entwickelte Ronny Delrue eine seiner ersten Skulpturen: „De Wandelaar“ (Der Wandler, der Spaziergänger, the walker): eine lebensgroße stehende menschliche Figur in einem knöchellangen Mantel und Schuhen, aus Gips und Dachpappe roh modelliert und schwarz eingefärbt. Sie steht im Kontrapost auf kleinen Füßen und neigt den allzu großen, allzu schweren Kopf so, als habe sie Angst, den nächsten Schritt zu machen. Die Präsentation der Figur kann variieren. In seiner Ausstellung im Museum von Ixelles hat der Künstler sie in die Ecke eines Raumes gestellt wie ein bestraftes Schulkind, so dass die Neigung des Kopfes nicht Angst, sondern Scham andeutet, Scham über die Unansehnlichkeit, die Ärmlichkeit, die Hässlichkeit, die die Skulptur dem Museumsraum zumutet.
Delrue hat sich in der Tat nicht bemüht, die Figur in einen Zustand der Vollkommenheit zu versetzen, das Menschenbild, das sie wiedergibt, als intakt vorzustellen; sie ist aber auch nicht unvollendet, ein Bozzetto, eine Skizze; sie beharrt dickköpfig – im doppelten Sinn des Wortes – auf ihrem Zustand des Flickwerks, der bricolage und des demütigen, blinden Nachdenkens in einem allzu großen, allzu schweren Kopf. Diese Skulptur soll sich aggressiv von anderen Skulpturen unterscheiden, der dargestellte Mensch soll einsam sein.
1969 hat der deutsche Bildhauer Siegfried Neuenhausen zu den Bürgern von Calais von Auguste Rodin eine Variante geschaffen: die „Bürger von B.“ (B für Braunschweig, die Stadt, in der er lebte): neun lebensgroße Pappmachéfiguren in gleichförmigen grauen Mänteln, die Hände auf dem Rücken verschränkt, in sich gekehrt, die Gesichter summarisch modelliert und mit braunem Packpapier beklebt (Aachen, Ludwig Forum für internationale Kunst). Sie sind voneinander abgewendet, sie tragen ihre Einsamkeit mit einem obstinaten Stolz. Sie sind hergestellt wie Karnevalsfiguren. Sie sind volkstümlich. In den sechziger Jahren begannen Künstler wieder, sich mit Puppen aller Art (Kinderpuppen, Schaufensterpuppen, Faschingspuppen) auseinanderzusetzen und in der Skulptur eine anarchische Anti-Ästhetik zu entwickeln.
Delrues „Wandelaar“ ist ein radikaler Keimling dieser Anti-Ästhetik, die sich gegen die Konventionen der europäischen Akademien richtete. Seine Isolation, sein Autismus geht weit über jene Inszenierungen hinaus, die Kommunikationslosigkeit und soziale Kälte beklagten. Delrues „Wandelaar“ erscheint missgebildet und krank.
Der gesichtslose, kaum „Gehende“ hängt in seinem Mantel; der große Kopf hat die energetische Substanz des Körpers aufgesogen. Was geht in diesem Kopf vor?
Die Erregung des Zeichners
“Sie sah (….) beim Husten eigentümliche unregelmäßige Gebilde, meist von schwarzer oder gelber Farbe, aus denen zackige, oder seltsam gewundene, rote Linien, oder punkt- und flockenförmige Figuren stark hervortraten. Sie erklärte sich diese Erscheinungen dadurch, dass sie sich den Inhalt des Kopfes als eine Wolke vorstellte, von der diese Gebilde abgerissene Stücke seien. Sehen könne sie sie, weil sie fühle, wie sich im Augenblick des Hustens ihre Augen nach innen drehen, so dass sie wohl alles, was im Kopf vorgehe, von der Außenwelt aber nichts sehe.“
- Kommentar von Michel Beretti zu einer Zeichnung der Patientin Hilde P. (1891 - ?) ( 1) -
Eines der schönsten und aufwendigsten Bücher Delrues ist das der „Diary Notes“ von 2005 mit Abbildungen von 200 Zeichnungen - etwas verkleinert aus ihrer Originalgröße DIN A 4 - von 1996 bis 2004, die Laurent Busine aus 650 Blättern eines Tagebuches ausgewählt hat. Die Gattung „Tagebuch“ weist auf die Intimsphäre eines Menschen hin; dieses Tagebuch rückt das Bild eines Künstlers in seinen Mittelpunkt, dem es auf denkwürdige Weise gelang, existentielle Dramen, Prozesse, die er mit geschlossenen Augen wahrnahm, die er sich mühevoll zu erklären versuchte, die er für so wichtig hielt, dass er sie mit Notizen versah und datierte, in Bilder zu fassen.
Wie eine Stele taucht die schmale Figur des „Wandelaar“ mit dem gesenkten Haupt darin auf. Sie wächst aus dem Boden, und aus dem roten Kopf fallen, verbunden durch eine Linie, drei große kopfförmige Blutstropfen in dunkler werdendem Rot zu Boden (25, 24). Oder: über der grauen Stele beginnt der Kopf rot zu glühen, und eine trichterförmige Blutblase steigt aus ihm empor (23). Oder: der Kopf gerät in eine wirbelnde Kreisbewegung, Kopf und Figur verdoppeln sich (26). Es ist eine große „expressionistische“ Erregung in diesen Blättern – wie in den Kreidezeichnungen der Schweizerin Miriam Cahn aus den achtziger Jahren ( 2 ). Das, was ich Blutblase genannt habe, kehrt in der Zeichnung einer Porträtbüste wieder als roter Dampf, der über dem Kopf eine Wolke bildet (48).
Hatte jene Figur, aus deren Kopf Tropfen fallen, Wurzeln wie ein Baum, so zeigt eine sehr große Zeichnung die Mantelfigur mit einem gekrümmten Ast, der aus ihrem Kopf wächst (31). Auch im Tagebuch erscheint eine Kopfsilhouette mit einem „Geweih“ aus Ästen vor einer grünlichen Lavierung. (42). „Thinking about it“ nennt der amerikanische Künstler John Isaacs 2002 eine Skulptur, die realistisch einen blutumflossenen Männerkopf zeigt, auf dem sich ein Baum erhebt ( 3 ). Walter Dahn hat den Kopf mit dem Gehörn und dem Baum darauf noch als afrikanische Trophäe (das Bild des St. Eustachius) gemalt (Aachen, Ludwig Forum für internationale Kunst). Und die düster blickende Büste Paul Klees in jener Radierung von 1911 stülpt aus ihrem Scheitel sogar eine Maus, die sich in Astwerk verwandelt ( 4 ). Dieses mausähnliche Tier läuft in mehreren Zeichnungen Delrues über einen Kopf und taucht in seinen gemalten Bildern auf (66).
Er bewegt sich im Bereich der Metamorphosen, in dem Empfindungen wie plötzliche oder lang anhaltende Schmerzen, Entbehrungen und Übersättigungen sich verdinglichen und Teile des Körpers und des Kopfes sich in Energien auflösen – sie beginnen zu strahlen.
Seine kulturelle Bildung erlaubt ihm solche Zitate wie die Verwandlung des Menschen in einen Baum nach Ovid, die Maus oder Ratte aus den Albträumen der schwarzen Romantik des 19. Jahrhunderts oder den doppelgesichtigen Gott Janus, den er in einigen Blättern erwähnt, aber es gelingt ihm, sich aus dieser belasteten Sphäre zu entfernen und Motive zu entwerfen, die er im sechsten Kontinent findet, den 1492 Sebastian Brant entdeckte, im gleichen Jahr, in dem Kolumbus auf den fünften stieß.
Narragonia
„Und die Kunst aber gehört dem Unbewußten!...Sich unmittelbar ausdrücken! Nicht aber seinen Geschmack, oder seine Erziehung oder seinen Verstand, sein Wissen, sein Können. Nicht alle diese nichtangeborenen Eigenschaften. Sondern die angeborenen, die triebhaften.“
- Arnold Schönberg in einem Brief an Kandinsky 1911 (5 ) -
Als der bekannte Komponist mit Kandinsky korrespondierte, glaubte er, eine Karriere als Maler aufbauen zu können. Er hatte eine Serie von kleinen Bildern unter dem Titel „Blicke“ geschaffen, Köpfe, Gesichter oder besser „Gesichte“, aus denen „Wahnsinn“ zu leuchten scheint (Afbeelding 3)( 6 ). John Russell fügt dem Zitat Schönbergs hinzu: „Wir werden wahrscheinlich niemals Bilder sehen, für die die reine Kunstfertigkeit so irrelevant ist wie für diese. Was wir in den Bildern sehen, ist Subjektivität in ihrer reinsten Form“ (7 ). Ronny Delrue straft Russell Lügen: in seinem Tagebuch finden sich Köpfe und Gesichter, aus denen nicht minder der „Wahnsinn“ leuchtet (38). Aber in der Typologie der „Wahnsinnigen“, die mit Bildern wie dem des Kleptomanen von Géricault im Museum von Gent (sic!) beginnt, gibt es jene Bilder, in denen der Autor einen anderen meint - wie Géricault - , diese, in denen er sich selbst abbildet – wie Artaud ( 8 ) – und solche, vor denen der Betrachter den Verdacht entwickelt, der Autor porträtiere sich selbst – wie Schönberg, wie Delrue. Dabei geht Delrue in diesem Bild so weit, einen Zustand zu zeichnen, in dem sich der Dargestellte befindet, eine Angst, in der das pulsierende Blut zu erstarren droht, Stacheln aus der Kopfhaut schießen und das Gesicht zu einer spitz auslaufenden Maske erstarrt, die sich in die Schultern einbohrt.
Das expressive Drama, die explosive Intensität kennzeichnen den Höhepunkt in einer Entwicklung des Werkes, an dessen Beginn nicht das spontane Erleben, die Aufhebung der Zeit in einer überwältigenden Empfindung, sondern die Erinnerung und das Vergessen, das steinerne Grabmonument und der Friedhof standen. 1993 malte Delrue ein Tableau mit neun gesichtslosen Köpfen von bekannten und weniger bekannten Toten auf dem Père Lachaise in Paris (Marie Virginie Bainquet, Modigliani u.a.). 1994 entstanden Bilder der Pyramiden von Teotihuacan (nach einer Mexiko-Reise).
Die Erinnerung in Steinen, als „Fossil“ ist für Delrue kein positiver Wert, sondern die Ursache eines Erschreckens: der Kopf als Ort des Erinnerns versteinert, die Büste des Verstorbenen verliert ihr Gesicht, das Gehirn entleert sich, die Erinnerungen gehen verloren . Das Erschrecken steigert sich zur Panik. Es können punktartige Partikel sein, nicht selten sind es im Tagebuch Zahlen und Zahlenreihen, die den Kopf umgeben, aus ihm hinausschießen (45, 43). Spiralen drehen sich hinter den Augen und greifen als Spinngewebe aus (33, 44). Der Kopf ist gewaltsam geöffnet und verliert Substanzen.
Deuten die Lavierungen der Köpfe in roten Tönen auf jenes „Purple Haze“ der Hippie-Kultur hin, das seit 1966 die Feste des „Summer of Love“ umgab? Verklärt Ronny Delrue seine Figuren in Visionen von LSD-Räuschen? Der zeitgenössische Melancholiker ist allzu weit entfernt von den Euphorien seiner Großväter und ihren psychedelischen Paradiesen. Sein Blick hinter die Pupillen darf nicht von Drogen verwirrt werden. Er sucht nicht Freude, sondern eine Bewältigung von Leiden und Ängsten. Aber der LSD-Rausch kennt auch eine qualvolle Megalomanie des Individuums, des Künstlers. Allen Ginsberg hat sie 1959 für die Beat Generation in seinem Gedicht „Lysergic Acid“ beschrieben:
„Es ist ein millionenäugiges Monster
Es ist verborgen in allen seinen Elefanten und Selbsts
Es summt in der elektrischen Schreibmaschine
Es ist Elektrizität, die an sich selbst angeschlossen ist, falls sie Drähte hat
Es ist ein riesiges Spinnennetz
Und ich bin am letzten millionsten unendlichen Tentakel des Spinnennetzes, ein Krieger
Verloren, getrennt, ein Wurm, ein Gedanke, ein Selbst...
Ich Allen Ginsberg ein einzelnes Bewusstsein
Ich der Gott sein will“
Den dramatischen Prozess, in dem sich ein Kopf öffnet und substantielle Energien abstößt, führt Delrue auf einen zeitgenössischen unsichtbaren Feind des Menschen zurück, für den er das sperrige lateinische Wort Cerebriraptor gefunden hat ( hersenfreter, brain eater, Gehirnfresser). Der Cerebriraptor ist eine teuflische Ausgeburt des „Große Bruders“ Orwells (des Instrumentes der Massenmedien als Leitfigur, als Herrscher), die die Autonomie des Menschen bedroht und seine totale Fremdbestimmung einleitet. Haben nicht um 1965 psycholeptische Medikamente zum Versiegen der Kreativität von Geisteskranken geführt? Der Cerebriraptor wird allen, den Kranken wie den Gesunden, ihre Individualität rauben. Delrue hat den Psychiater Erik Thys eingeladen, über diesen Krankheitserreger einen fachwissenschaftlichen Text zu schreiben. Thys beschreibt mit einem lächelnden Augenblinzeln die Krankheit als Delrues Syndrom, eine langsame Degeneration des Gehirns, die der neu entdeckte Erreger verursacht. Man könne sie erkennen: « Maintenant, on voit la maladie, ces points qui apparaissent sur la tête, les seins. La gangrène sort de la tête, coule sur la main, jusqu´à immobiliser complètement le corps. »
Wir sind in den sechsten Kontinent eingedrungen, in « Narragonia », das mythische Land des Wahns, zu dem die Narrenschiffe auf den Flüssen des Nordens fahren. Sebastian Brant (1492) und Josse Bade (1498) haben es im „Narrenschiff“ „La Nef des Folles“ zum ersten Mal beschrieben. Adolf Wölfli nannte es im 20. Jahrhundert „den Südmeridian“. Ronny Delrue interessiert sich nicht dafür, Narren, „Wahnsinnige“, Geisteskranke und ihre Abenteuer darzustellen, er wagt die Gratwanderung zwischen seinem Kontinent und dem nächsten, um in sein eigenes Ich einzutauchen, um dort eine Festung gegen den Cerebriraptor zu errichten.
“Vintery, mintery, cutery, corn,
Apple seed and apple thorn;
Wire, briar, limber lock,
Three geese in a flock.
One flew east,
And one flew west,
And one flew over the cuckoo's nest.”
Ken Elton Kesey hat 1959 die letzte Zeile dieses englischen Kinderreims zum Titel eines Romans gemacht, der die Unterdrückung von Geisteskranken in einem Hospital erzählt. 1975 erregte der gleichnamige Film von Milos Forman mit Jack Nicholson weltweit großes Aufsehen. Jener, der am Ende „über das Kuckucksnest flog“, erschien als Symbol geistiger Befreiung. Mit dieser Vorstellung wurde Kesey zu einer wortgewaltigen Führerfigur im „Summer of Love“ in Haight/ Ashbury 1967. Er popularisierte den „acid test“, den LSD-Rausch als den anderen Flug über das Irrenhaus der amerikanischen Gesellschaft.
“They draw their most inner self”.
- Ronny Delrue zit.von Peter De Graeve –
Als wir das Krankenhaus des Dr. Ghislain in Gent besuchten, wusste ich, dass Delrue mit „Kuckucksnestern“ vertraut war. Er hatte sich mit geisteskranken Patienten in verschiedenen Kliniken Flanderns beschäftigt, stellte Bildnisse von ihnen seinen Selbstporträts gegenüber und begriff sie so sehr als Protokolle von Zuständen, dass er ihnen nicht nur das Datum, sondern die genaue Uhrzeit hinzufügte: „C. R. 16.05.2002“ (12.55u.) (35). In Workshops zeichnete er mit ihnen zusammen, porträtierte Christine Remacle (mit der linken Hand, um jede Artistik zu vermeiden) und ermutigte sie, in die Zeichnung hinein zu malen. Sie setzte ein kräftiges rotes Doppelkreiszeichen über ihr rechtes Auge oder übermalte rot die Gehirnzone ihres Kopfprofils (36, 37). Delrue nannte eine Ausstellung dieser Blätter „Sensitive Minds“ und ein Buch „Mind Map“.
In den Blättern seines Tagebuchs taucht das Motiv des Grüblers auf (41). Er erinnert sich des verehrten alten flämischen Malers Roger Raveel im benachbarten Deinze, der seinen Bildern so lapidare philosophische Titel gab wie „Wat begrijpen we eigenlijk wel?“ (1970) oder „Meer kann ik niet doen dan griffelen in het niets“ (1978). Delrue steht hier vor existentiellen Fragen und nimmt die ruhigen, summarischen Formen Raveels auf.
Aber er ist zu sehr in der unruhigen Bildwelt des sechsten Kontinents gefangen. “… I have the feeling that I do not create the work myself, but that the work originates by itself.” (zitiert von Eva Wittocx). Die Frage lässt ihn nicht los: Wofür steht jenes Zeichen, das Christine Remacle in sein Bild von ihr gemalt hat? Einer seiner frontalen Köpfe ist mit drei Pinselstrichen in Weiß in Nasenhöhe verschlossen. An den oberen schließt eine schmale Silhouette an, die über die rechte Kopfhälfte hinausragt (34). Unter ihr ist die Wange dunkel. Ein kleiner Kopf trägt eine große runde Kappe, und eine gewaltige Wolke von Zahlen schießt aus ihm empor (40). Ein anderer Kopf mit einer großen Haube schwankt auf einem Körper, der ein langer gestreifter Stengel ist (6.1.98), ein roter kleiner Kopf schlägt am Ende eines schlangenartigen Bogens an der unteren Bildkante auf und verbreitet eine Pfütze (7.1.98), 28 senkrechte Bleistiftlinien stoßen mit ihren Spitzen auf eine rot lavierte liegende Aktfigur (04), eine dunkle bekleidete Männerfigur verwandelt sich in einen spiraligen Hohlraum (28.12.02), eine Kopfform zieht Kreise und produziert eine in der Tiefe auslaufende Röhre (25.8.04). Eine Figur erscheint als „Kürzel“, als wäre sie von einem der Patienten gemalt, und sendet mit Bleistift hinzugefügte Strahlenbündel aus (51), in einem anderen Blatt bilden die Strahlen einen „Faradayschen Käfig“ um eine sorgsam umrissene Körpersilhouette (52). Dann aber verwandeln sich die Strahlen in ein sphärisches Spinnengewebe, und die Figur wuchert kreisförmig aus (55). Hier liest man die Druckbuchstaben CEREBRIRAPTOR spiegelschriftlich auf einer gezeichneten Kopfkalotte mit einer Beule und darauf, einen kleinen Schatten werfend, die schwarze Kugel des Bazillus mit jener spiraligen Röhre, die jetzt ein Stachel ist (53).
Wenn ich mit Ronny Delrue zusammen sitze, zeichnet er. Er erklärt, indem er zeichnet. Er blickt auf unzählige Zeichnungen zurück. Die Obsession enthält einen Automatismus, der dann gefährlich wird, wenn der Autor allem, was er zeichnet, den gleichen Wert beimisst. Um der Gefahr entgegen zu wirken, hat sich Delrue in den letzten Jahren der Disziplin unterworfen, mit einigen Freunden zusammen nach einem gemeinsam engagierten Aktmodell zu zeichnen.
Diese lavierten Bleistiftzeichnungen und Aquarelle erscheinen leichtsinnig, graziös, tänzerisch (ein tanzender Pinsel). Delrue will die Gestik des Modells nicht strapazieren: dort, wo es sich spreizt und seine Scham öffnet, vollzieht es nur eine akademischen Gebärde nach, die in der Geschichte der Kunst bekannt ist. Wenn der Künstler diese Spreizung zeichnet, zielt er weniger auf den quälerisch erotischen Ausdruck, den Egon Schiele suchte, als auf die „duftende“ sinnliche Schönheit, die wir in den Aquarellen Auguste Rodins bewundern (60, 57, 64) (Anmerkung 9). Die Praxis, mit Wasserfarben zu malen, fordert äußerste Konzentration in der Führung des Pinsels, Schnelligkeit, Spontaneität, Distanz zu den Belastungen, unter denen die eigene Psyche steht. Delrue gewinnt hier eine Heiterkeit, die die Blätter aus seinem Oeuvre herausragen lässt. Aber er wäre ein anderer, würden in diesen Zeichnungen nicht auch Metamorphosen stattfinden: dunkle Übermalungen, unter denen noch der gezeichnete Akt zu erkennen ist, die über ihm ausbrechen wie glühende Lava, dicke Klumpen ausbilden mit Schwänzen oder Füßen, rote Tropfen ausscheiden – unter einer dieser flüssigen Medusen, die einen Akt auf dem Kopf zu verbergen scheint, steht in Schreibschrift cerebriraptor (63, 62, 56)
Die Ruhe des Malers
„Sometimes, as a painter, I go through a lot of misery“
(zit.Peter De Graeve)
In einem niederländischen Malerbüchlein des 17. Jahrhunderts soll die Geschichte stehen: ein Patrizier bestellt bei einem Maler das Porträt seiner Mätresse: nackt, im Bett. Nach einigen Wochen bewundern beide das fast fertige Bild. Drei Tage später holt der Patrizier es ab: Er steht vor einem grünen Vorhang. Der Vorhang ist das Bild. Der Maler sagt: „Sie haben sie gesehen, ich habe sie gesehen. Warum sollen andere sie sehen?“
Diese Maleranekdote variiert das Thema der Scham, das wir von Diana und Acteon und Susanna im Bad kennen. Jean-Michel Alberola hat diese Motive zum Anlass genommen, Bilder zuzumalen, Motive in Bildern verschwinden zu lassen. Aber auch Per Kirkeby verbirgt Skizzen nach Abildgaard in seinen Bildern. Kurzum: jeder Restaurator wird bestätigen, dass sich in vielen Bildern andere verbergen. Nicht immer wird der Betrachter das erkennen oder erahnen. Die Scham hat viele Gesichter. Die Decke, die über einem Bild liegt, kann selbst ein verlockendes Bild sein.
Delrue malt große Bilder, und er nimmt sich Zeit dazu. Er mischt dunkle Töne aus grünen, braunen, blauen und schwarzen Pigmenten und fügt ihnen chinesische Tusche hinzu. Die Farbhaut der Bilder zeigt viele Schichten von flüssigeren und festeren Acrylpasten, das Relief von Pinselstrichen ebenso wie Spritzer und Tropfen. Die Farben sind weniger geführt worden als geflossen, oder: gerade Verläufe überwiegen vor kurvigen. Das Auge des Betrachters tastet sich durch „Sperren“ in einen dunklen Bildraum, der häufig eng bleibt. Was sieht es? Wird eine Geschichte erzählt?
Am einfachsten scheint der Zugang zu jenen schwarz-weißen Fotovergrößerungen, die Delrue in den letzten Monaten ausstellt: er hat in vorgefundenen Familienfotos die Körper, Teile der Körper oder nur die Köpfe schwarz übermalt, so dass sie als Silhouetten erscheinen. Silhouetten? Delrue hat mich auf Leon Spillaert aufmerksam gemacht. Im Genter Museum hängt ein gemaltes Selbstporträt von ihm, das den Künstler um 1910 am Fenster in starkem Gegenlicht wie einen Schattenriss zeigt. Auf den großen „Fotografiken“ der kleinen Fotoübermalungen Delrues erzeugen die Kruste der Farbe und die Risse, die sich in ihr gebildet haben, jenen Ausdruck der Versteinerung, den er in frühen Bildern schon suchte. Hier treten zwei Medien zueinander: zum einen die historische Amateurfotografie mit der Nostalgie, die sie erzeugt (Christian Boltanski hat sie vielfältig genutzt), zum anderen die Übermalung, die Malerei, die der Bildoberfläche ihre eigene Materialität, ihren eigenen Prozess des Alterns und Vergehens aufträgt; vertraut das eine Medium, befremdend das andere: was Spillaert zart andeutet, wird hier ausgesprochen: die Dargestellten sind gestorben, der Betrachter unterhält sich ahnungsvoll mit dem Tod.
In der Reihe der frühen Selbstporträts ist das mit dem Titel „Versteende geest“ (1993, 200 x 150 cm) eines der größten. Die erdbraunen und weißkalkigen Farbtöne tragen dazu bei, die „Versteinerung“ deutlich zu machen. Das, was wir als Haupt erkennen wollen, ist ein massiver Säulenkopf, der undifferenziert und mächtig das Bild beherrscht, ein Block, der voll und leer zugleich ist. „M.A. 2001.XI.1“ dagegen ist der glaubwürdige Kopf einer Person in einer Straße, deren Züge verunklärt sind, als sei beabsichtigt, ihre Identität zu verschleiern. Aber auch dieses Bild ist groß (200 x 200 cm), es lässt dem Betrachter Zeit, durch die Mäander der Malerei zu streifen. Sein Auge entdeckt schnell, dass sich in den senkrechten und waagerechten Schraffuren Acrylfarben mit schwarzer chinesischer Tusche mischen, und dass der Maler eine lange Abfolge von Hell zu Dunkel bewältigt, in der die bedeckten weißen, gelben, ockerfarbenen, roten Flächen wie leuchtende Glasscherben aus der blau-grünen Nachtszene hervorstechen. Die Farbpalette erinnert an die der dunklen Kardinalsbilder von Francis Bacon, aber die Figur, die das Bild beherrscht, ist kein unverdeckter Mensch im Dunkel eines Raumes, sondern ein verdeckter, verschleierter, verrätselter, die Kommunikation verweigernder - ein „Wandelaar“.
In „1990. V.1“ taucht er als Mantelfigur im Vordergrund eines Bildfeldes auf, das durch ihn zu einer nassen Straße im trüben Licht eines frühen Winterabends wird. Die Bildmitte glänzt silbrig, als hätte sich dort eine große Pfütze gesammelt, aber der Kopf des Menschen verschwindet fast im Dunkel des Himmels. Ist die Figur wirklich ein Mann, den der untere Bildrand an den Knien abschneidet? Warum führen vier dunkle Horizontalen vom linken Rand durch ihn hindurch und enden unter einer Übermalung? Warum leuchtet grell wie ein Blitz ein weißes längliches Licht an seinem linken Ohr?
In einigen gemalten Bildern bewegt sich Delrue in der Ikonografie, die uns aus seinen Zeichnungen bekannt ist. „C. R. 2001, XII, 2“ verrät in den Initialen, dass die Dargestellte Christine Remacle, die Patientin ist, mit der er gemeinsam gezeichnet hat (11). Aber er scheut sich nicht, Motive aus der politischen Aktualität aufzugreifen: im Atelier liegen Zeitungsfotos, die er verwenden wird. Er verrät, dass er in dem großen Hochformat„P. F. 2003, I.1.“ den am 6. Mai 2002 erschossenen Pim Fortuyn gemalt hat; in dem hellen Schädel mit der blutenden Wunde hat er die Gewalttat konzentriert, aber alle übrigen Formen sind mehr noch als in anderen Werken verunklärt, „in der Schwebe“ gehalten, sogar das vertikale Format irritiert den Betrachter. Der Pinselduktus verleitet dazu, das Bild als Querformat zu lesen (13).
„P.F. 2003, I. 1.“ ist also kein deutlich artikuliertes Historienbild, das den Tod eines bekannten Politikers festhält – wie das Bild des toten Marat von Jacques Louis David. Der schamvolle Blick, der das Ereignis in der Malerei verbirgt, entspricht von ungefähr jener Unschärfe, mit der Gerhard Richter 1989 in seiner Bildgruppe „18. Oktober 1977“ die RAF-Mitglieder nach ihrem Tod im Stammheimer Gefängnis dargestellt hat
Der Tod des Pim Fortuyn ist nur eine der Anekdoten eines Hintergrundes, vor dem sich Energien bewegen, die die Verstofflichung scheuen. Diese Energien verharren in Bewegungen von blauen, grünen, braunen, schwarzen Schattenfarben, sie sind nächtlich. Sie liegen wie Sedimente, wie Russ auf den Leinwänden, zuweilen schweben sie vor hellen Gründen: „pinturas negras“. Die Bezeichnung führt zu der „Quinta del Sordo“, zu jenen Bildern des alten Francisco Goya von 1819. Da ist der Riese, der sich über dem Lager der panisch fliehenden Bauern, in den nächtlichen Himmel emporreckt – und hier ist das Bild Delrues „De hersenvreter,2004, III, 1“, das der Komposition, der Palette und der Stimmung des historischen Meisterwerks aus großer Ferne folgt (Madrid, Prado). Die panischen Bauern sind hier komprimiert in ein dunkles, in sich geschlossenes Gesicht, das für den Menschen steht. Sein Kopf endet in einer Platte, auf der sich zwei eiförmige Ovale erheben. Als er das malte, muss Delrue an Bilder von Hieronymus Bosch gedacht haben. Und auf diesen bedeutungsvollen Gefäßen der Gehirnhälften steht er, das mausähnliche, vierbeinige Ungeheuer, Delrues Albtraum, der CEREBRIRAPTOR. Die pathetische Allegorie des Krieges ist einer neuen Allegorie des 21. Jahrhunderts gewichen.
„Gebackene Erde“
„Mind Sculptures“
Delrue ist seit 2004 Einladungen in ein Gastatelier im „European Ceramic Workcenter“ in ´s-Hertogenbosch gefolgt, um Skulpturen aus gebranntem Ton und Porzellan zu entwickeln. Er öffnet überraschend die Sphäre seiner Arbeitsperspektiven. Der Gedanke, aus einem spröden Material wie Holz oder Stein eine Form, eine Figur heraus zu hauen oder zu schneiden, ist ihm fremd; dagegen erscheint ihm das Kneten einer weichen erdigen Masse wie das Führen von Farben mit einem weichen Pinsel oder wie Zeichnen in drei Dimensionen. Damals, als seine Ängste um den Verlust der Erinnerung in der Fossilisation kreisten, hatte er seine gesichtslosen, kreidebleich gemalten Köpfe durch weiße lebensgroße Gipsköpfe ergänzt und beide zusammen 1995 im Parlament in Brüssel dauerhaft installiert. Jetzt brennt er in großen Öfen schwarz glänzende „Mind Sculptures“ und „Mind Houses“.
Die erste Gruppe von drei Figuren folgt im Januar 2005 jenen Entwürfen, denen auch der „Wandelaar“ sein Leben verdankt. Aber sie sind keine „bricolages“ mit unregelmäßigen Oberflächen, sondern schwere, massive Keramiken, einheitlich schwarze Variationen eines Stehenden – dreidimensionale Schattenrisse (19).
Unter Delrues Blättern zeigt eine übermalte Aktzeichnung eine ovale, eiförmige Figur, die sogar einen dunklen Kopf zu haben scheint, und zu ihrer Rechten einen gerundeten „Satteliten“, ein „Kind“ für diese „Mutter“ (61). Das Blatt gibt eine „prima idea“ für eine Skulptur, die sich wie ein Architekturmodell betrachten lässt: ein Rundturm, so hoch wie breit, mit einer flachen, geöffneten Kuppel wie der römische Pantheon, an ihn gelehnt ein kleiner sphärischer Zentralbau mit spitz zulaufender Kuppel: ein „Mind House“ mit Einganshalle (17).
(„Mind Sculptures“ in dieser Größe ähneln Bienenkörben aus geflochtenem Stroh – erstaunlicherweise illustriert der amerikanische Bildhauer Royden Rabinowitch seinen Beitrag zu dem Ausstellungskatalog „Open Mind – Gesloten circuits. Hommage aan Vincent“ in Gent 1989 mit einem Foto, das offensichtlich einen geflochtenen und einen gegossenen Bienenkorb zeigt )
Kuppelentwürfe erscheinen im Tagebuch: am 12. Februar 2003 eine weinrot lavierte Zwiebelkuppel mit der Zeile „ekwc ´s-Hertogenbosch“ oder eine blau lavierte Kuppel mit einem spitzen Turm oder, am 18. 8. 2004, ein gewölbter Turm mit einer Spitze. Diese Spitze kann auch die einer stehenden Bombe sein, und in diese Vorstellung fällt die Information über Selbstmordattentäter im Irak hinein; Delrue beginnt, „Bombenmenschen“, „Bommensen“ als kleine schwarze Figurinen in Porzellan zu formen und zu brennen – in unbestimmter Zahl.
An die Wand des Studios in ´s-Hertogenbosch sind etliche Zeichnungen geheftet, die einen „Hügel“ zeigen, der in einer dicken Bahn ausläuft. Auf dem Umschlag des publizierten Tagebuchs erscheint eine dieser Zeichnungen, in der der „Hügel“ einmal nur als Umriss laviert ist und den oberen Teil einer menschlichen Figur umgibt, wie Delrue sie geformt und gebrannt hat. Diesen „Hügel“ hat der Künstler im Dezember 2004 so in Ton geformt, dass er wie ein Turm mit einer geschlossenen runden Kuppel aussieht, der sich zu einer Seite hin verflüssigt und sanft in zwei Strängen ausläuft, zwischen denen eine Mulde entsteht. Diese “Mind Sculpture“ ist offensichtlich in der Fantasie Delrues ein großes Monument, ein dunkles geschlossenes Denkmal mit einem langen Zugang, einem Tunnel, einem Weg. Im Studio sieht man kleine Varianten: Stupas mit Eingangsöffnungen, neben denen eine lange gewundene Mauer den Pilgerweg kennzeichnet.
In einem anderen Entwurf umfängt ein halbierter Trum, eine schützende Schale eine flache, zugespitzte Kappe, die einer weiblichen Brust ähnelt. In der nächsten Phase öffnet sich die Spitze und lässt Blicke in ein geheimnisvolles Dunkel zu. Die Erde scheint schwanger zu sein und sich auf eine Geburt vorzubereiten.
Diesem „weiblichen“ Monument steht ein anderes, ein männliches, in Kaolinmodellen gegenüber: ein Turm als offener Kegel, gemauert aus Ziegeln und weiß getüncht, mit einem Eingang, der nur den Zutritt von Einzelnen gestattet. Delrue scheut nicht die Nähe zu kalifornischen Künstlern wie James Turrell, die in dunkel gerahmten Himmelssegmenten öffentlicher Bauten oder natürlicher Höhlen das Erlebnis kosmischen Lichtes suchen. Nachdem er sein Ich so lange in den Labyrinthen seines Körpers und seiner Seele ausgeschöpft hat, muss es ihm gelingen, eine externe Fläche zu finden, auf die er es projizieren kann.
Delrue hat in ´s-Hertogenbosch Ermutigungen erfahren, die ihn hoffen lassen, einen jener Entwürfe in monumentaler Größe verwirklichen zu können.
Das Z 33 in Hasselt bot ihm in den letzten Monaten die Möglichkeit, die Arbeit an den „Mind Sculptures“ und an dem Entwurf eines „Centre for Cloning and Manipulation“ in klaren, neutralen Räumen großzügig auszubreiten – asketisch, konzeptuell, durchaus im Gegensatz zu jenen „work spaces“, Atelierecken, die er in vorigen Ausstellungen (Ixelles, Eupen) eingerichtet hatte, wenngleich das „C.C.M.“ als eine Ansammlung von Verpackungskisten wiederum einen provisorischen, transitorischen Zustand vorführt und eine „Werkstatt“ die Schöpfung und Herstellung der „Baby“-Klone andeutet. Eine große Zahl von „Bombenmenschen“ ist auch unter gläsernen Hauben sichtbar gemacht.
Dem multiplikatorischen Konzept des „C.C.M.“ steht die Berschäftigung mit dem vereinzelten Monument, dem offenen Turm gegenüber, der den Blick in den Himmel und in die Erde thematisiert: Touching the Earth and the Sky. Delrue entwirft diesem Turm für einen ummauerten Garten ebenso wie für den Hof des Z 33: eine große Papierbahn auf dem Boden zeigt ein gezeichnetes Wegelabyrinth, das auf das ½ m hohe Modell hinführt: einen Rundturm, einen offenen Konus, der den Blick in den Himmel freigibt, aus makellos weißen Backsteinen aufgeschichtet.
Die Ansichten der im Licht schimmernden und verschatteten Innenwände dieses Turmes und die wechselnden Blicke in den Himmel hatte Delrue bereits in s´Hertogenbosch 2007 fotografisch konstruiert. Jetzt führt eine Videokamera in einem abgedunkelten Raum in langsamen Fahrten durch den Turm in den Himmel, zieht an den leuchtenden Wänden vorbei, zehrt die Härte der Steine auf, so dass sie den Wolken gleichen, die jenseits des Kreisrandes zaghaft sichtbar werden; die Blicke nach unten und oben verwirren sich; der Film simuliert überzeugend die Empfindungen eines Besuchers des Turmes an einem heiteren , sonnigen Nachmittag.
Epilog
Zur patophilen Ästhetik
Ich habe die Arbeit Delrues in einer Periode von etwa vierzehn Jahren so zu beschreiben versucht, dass in ihr eine innere Logik erscheint. Der Künstler bewegt sich in dieser Periode dialektisch zwischen den Eckpunkten der äußersten Formalisierung, der Ruhe, der „Fossilisation“ und der „gebackenen Erde“ einerseits und andererseits der anarchischen Auflösung, der gesteigerten Erregung, der Verflüssigung, der unruhigen Versuche, Energien zu verstofflichen. Ich will diesen Vorgang nicht biografisch begründen, nicht nach einem Menschen suchen, der durch äußere Umstände aus ruhigen Bahnen geworfen wird, in seiner Not Hilferufe artikuliert und in ruhige Bahnen zurückkehrt. Wenn sich denn eine Chronologie abzeichnet, so möchte ich sie als exemplarische Recherche eines Künstlers begreifen, der seine Identität auf besondere Weise öffnet, ausbreitet und erweitert.
Am Anfang und am Ende dieser Recherche bewegt sich Delrue in den ruhigen Zonen der Kunstpraxis. Der Ausblick auf die Architekturprojekte deutet an, dass unter den äußeren Zwängen, denen Projekte im öffentlichen Raum unterworfen sind, Sublimierungen stattfinden, die den Künstler in die Metaphysik führen. Solche spirituellen Projektionen ergänzen auf den ersten Blick nicht die Bilderfahrungen, die Delrues Augen machten, als sie sich in sein Inneres umgewendet haben. Sie scheinen auf eine andere Bildfantasie, auf einen anderen Autor zu weisen.
Die Bilderfahrungen, die Delrue in seinem Ineren machte, bildeten den ersten Höhepunkt seiner Arbeit der letzten Jahre. Sie sind Ergebnisse einer risikoreichen Erregung, die ihm erlaubte, einen Thesaurus von Formen und Gestalten zu erobern, den ich dem sechsten Kontinent und einer patophilen Ästhetik zugeordnet habe.
Gezeichnete Köpfe des Griechen Dimitri Protopapas sind Protokolle ähnlicher Zustände der Erregung, in der sich die Gesichtszüge in wandelnden Metamorphosen bewegen (Anmerkung 10). Miriam Cahns große Blätter sind aus einem anderen Grund interessante Vergleichsbeispiele: sie suchen das Gruppenerlebnis, die Inszenierung, die Bühne, die große Öffentlichkeit( 11 ).
Es ist so falsch, einen Künstler introvertiert zu nennen, der die Bilder seines Inneren nach außen projiziert, wie es falsch ist, einen Menschen einen Autisten zu nennen, der nur mit sich selber spricht. Delrue hat nicht nur sein zeichnerisches Werk extensiv publiziert, er hat es nicht nur in zahlreichen Ausstellungen ausgebreitet, er hat sogar das Publikum eingeladen, die Arbeit in seinem Atelier als Recherche zu begreifen, indem er das Atelier als „Labor“ mit unregelmäßig an die Wände gehefteten Zeichnungen, mit Zeichentisch und Stuhl in einigen Ausstellungen so inszeniert hat, dass der Besucher Scham empfindet, wenn er diese Intimsphäre betritt. (Miriam Cahn ist in ihrer frühen Arbeit „Das wilde Lieben“ noch weiter gegangen, indem sie die aktionistische, nahezu magische Sphäre einer prähistorischen Höhle erzeugte, an deren Wänden Menschen Abdrücke, Abreibungen hinterlassen haben). Und er hat es geliebt, diese Pinnwände in seinem Atelier in seinen Publikationen wiederzugeben.
Es versteht sich, dass jeder, der den sechsten Kontinent betritt, die Büchse der Pandora öffnet, einen „Giftschrank“, der mit Verboten und Tabus geschützt ist. Er muss Scham empfinden, wenn er diese Schatzhöhle ausbeutet. Wenn er die Ungeheuer, die ihm sichtbar geworden sind, verdinglicht, wird er unter Umständen ihren Ausdruck schmälern, sie verkleinern, ihnen komische Namen geben ( wie cerebriraptor), er wird Elemente, die er sich scheut, sichtbar zu machen, überzeichnen oder übermalen, er wird der Übermalung besondere Sorgfalt widmen.
So reich ist dieses Oeuvre an Vorstößen in unbekannte Terrains und Rückzügen in vertraute Felder, an genussreichen Wanderungen auf dem Feld virtuoser Zeichnung und großer Malerei einerseits und wütenden Attacken gegen die Konventionen der Akademien andererseits, dass dieser Text nur eine bescheidene Hilfe sein kann, es auszuloten.
Als Delrue sich im „European Ceramic Workcenter“ in s´Hertogenbosch niederließ, hat er jene „Büchse der Pandora“ kraftvoll geschlossen, in die er bis zu jenem Zeitpunkt hineingeschaut hat. Er wendete den Blick nach außen, die Öfen, in denen Tonerden und Porzellan ausgeglüht werden, faszinierten ihn; er fuhr nicht nur fort zu zeichnen, er begann, mit kalter, weicher Materie zu modellieren; und was zuerst noch die Gestalt von Menschen annahm, formalisierte sich langsam, beginnend in Pfützen aus flüssigem Ton, in Architekturen; die Bildfantasien verdichteten sich nicht in einem Kristall, sondern in einem Turm.
Delrue hatte in frühen Selbstbildnissen eine seltsame Angst vor „Versteinerung“ thematisiert, jetzt, da er „Versteinerungen“ erzeugen, weiche, knetbare Stoffe härten, „mineralisieren“ konnte, öffnet er sich Konzepten, die weit über seine Person hinausreichen, entwirft „earth works“ in Gärten und erzeugt in einem Videofilm die perfekte Illusion eines dialektischen Erlebnisses: Touching the Earth and the Sky.
Die Antithese zur EINsicht ist nicht eine AUSsicht, die sich auf andere Menschen, auf eine Welt richtet, die der horizontale Blick erreicht. Diese Aussicht ist vertikal orientiert, sie sucht beharrlich (so zeigt es die Kamera) einen Standpunkt zwischen Erde und Himmel. Das forschende Auge des Künstlers, das nahsichtig die eigene Hirnschale umkreiste, ist nun weitsichtig zum Himmel gewendet.
Die visuelle Recherche des Ronny Delrue mündet in ein Forschungsprojekt, in das er die Arbeit anderer Künstler einbezieht. Sie gewinnt an Deutlichkeit, verbalisiert und konzeptualisiert sich. Sie wird in einem Text gipfeln, mit dem er den Titel des Ph. D. der Universität Leuwen erhält.
2007 wurde Ronny Delrue Vater eines Sohnes, Pepijn. Sein künstlerischer Eros hat die Vorbereitungen dieses Ereignisses begleitet.
Anmerkungen:
1. Michel Beretti + Armin Heusser,
Der letzte Kontinent. Bericht einer Reise zwischen Kunst und Wahn
Ein Bilder- und Lesebuch mit Materialien aus dem Waldau-Archiv
Limmat-Verlag, Zürich 1997
2. Andreas Meier, Centre PasquArt Hg. Miriam Cahn Architekturtraum, Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2002 Abbildung Seite 21 „Das klassische Leben“ 1993, Kreide, Architekturpapier (11), Abbildung Seite 111 „Liegende“ 1993, Kohle (10)
3. Plakat Essen, Folkwang-Museum
4. Radierung 1905 in: Beretti + Heusser a.a.O. Abbildung
5. Thomas Zaunschirm ed.: Arnold Schönberg, Das Bildnerische Werk, Paintings and Drawings, Ritter Verlag, Klagenfurt 1991 zitiert aus einem Brief an Kandinsky 1911 Seite 122
6. a.a.O. Abbildung Seite 208
7. John Russell a.a.O. Seite 122
8. Stadt Gent en Janssen Pharmaceutica, Open Mind (Gesloten Circuits/ Circuiti Chiusi) - Hommage aan Vincent, Museum van Hedendaagse Kunst, Gent 1989
Antonin Artaud, Autoportrait, 1947
Abbildung Seite 18
9. Auguste Rodin: Femme nue assise aux jambes écartées, une main au sexe, um 1890
Crayon graphite, aquarelle sur papier crème filigrané, 20, 2 x13cm
Musée Rodin, Paris D. 4388
Egon Schiele : Kauernde, Aquarelle, Abbildung www.karlkreuzer.de « Rodin »
10. Traum & Trauma, Werke aus der Sammlung Dakis Joannou, Athen, Kunsthalle Wien – MUMOK Wien, Hatje-Cantz-Verlag, Stuttgart 2007, Abbildung Seite 215
11. Andreas Meier a.a.O. Abbildung Seite 38 „Das wilde Lieben“ 1984, Kreide, Papier, Plastilin (63)